Rezension zu: Rice, Virginia Hill (Hrsg.): Stress und Coping. Lehrbuch für Pflegepraxis und –wissenschaft. Deutschsprachige Ausgabe herausgegeben von Patrick Muijsers. Aus dem Amerikanischen von Astrid Hildenbrand. Deutschsprachige Ausgabe bearbeitet von Rudolf Müller. Mit einem Beitrag von Richard S. Lazarus, Bern 2005.
Preis: 69,95 Euro.
Schlüsselbegriffe:
Stress, Coping, Bewältigungsstrategien, Forschungsbericht
Zielgruppe:
Lehrkräfte und Studenten der Pflege- und Gesundheitswissenschaft sowie -pädagogik, Pflegepraktiker
Das Wichtigste in Kürze:
Stessphänomene sind allgegenwärtig. Sie beeinflussen unser subjektives Wohlergehen und unsere Gesundheit. Ein professioneller Umgang mit ihnen ist deshalb äußerst wünschenswert. So komplex wie die Phänomene, so vielfältig sind die Theorien darüber. Das Buch „Stress und Coping“ bietet hier einen vorzüglichen und fundierten Überblick.
Besprechung:
Stress ist ein Wort der Umgangssprache. Jeder scheint zu wissen, was damit gemeint ist. Situationen werden als stressig qualifiziert und Menschen fühlen sich gestresst. Der Zusammenhang mit unserem Wohlergehen, mit unserer Gesundheit liegt quasi auf der Hand. Sind wir krank, so kann dies als Stresssituation bewertet werden, mit der, unabhängig von der Krankheit selbst, umgegangen werden kann. An dieser Stelle kommt die Pflegepraxis ins Spiel. Doch schaut man näher hin, was denn genau unter Stress zu verstehen sei und wie er auf unser Wohlergehen in Situationen der Krankheit und auf unsere Gesundheit tatsächlich wirkt, sind die Diagnosen und Zusammenhänge nicht so eindeutig. Nicht weniger als drei theoretische Ansätze werden gegenwärtig in der Stressforschung vertreten – theoretische Ansätze, die sich in ihrer Grundkonzeption nicht nur unterscheiden, sondern gegenseitig auszuschließen scheinen. Es ist deshalb keine leichte Aufgabe, will man sich einen fundierten Überblick über die vertretenen Ansätze, ihre Tragfähigkeit und Erklärungskraft verschaffen. Für den Anwendungsbereich der Pflegepraxis und – wissenschaft hat Virginia Hill Rice im Jahr 2000 das „Handbook of Stress, Coping, and Health“ herausgegeben, das nun in deutscher Übersetzung vorliegt. In dem als Lehrbuch qualifizierten Band kommen die Vertreter der verschiedenen Forschungsrichtungen zu Wort, die jeweils ihren Theorieansatz stark machen, indem sie ihn mit empirischem Material unterfüttern. So erhält ein Leser einen umfassenden Überblick über den Stand der Forschung bezüglich Stress- und Gesundheitskonzepten, Messtechniken und Forschungsmethoden im Jahre 2000. Da es sich um eine Übersetzung eines älteren Buches handelt, bleiben für den Leser leider rund fünf Jahre Forschung im Dunkeln und man fragt sich, warum die Übersetzung eines so wichtigen Buches nicht schon viel früher erscheinen konnte. Für alle Leser, die sich an der aktuellen Forschungsfront bewegen wollen, bleibt nach wie vor nur der Verweis auf englischsprachige Literatur.
Sehr hilfreich ist der Einleitungsaufsatz von Brenda L. Lyon. Die Autorin skizziert kurz und allgemeinverständlich die Konzeptionen von Stress. Diese reichen von Stress als Reaktion über Stress als Reiz zu Stress als Transaktion. Sie diskutiert jeweilige Stärken und Schwächen und bringt die Konstrukte in eine Art Entwicklungsprozess. So stehen die Theorien nicht unverbunden nebeneinander, sondern verweisen aufeinander. Als umfassendstes Konzept identifiziert Lyon dabei das von Richard S. Lazarus in den 60er Jahren entwickelte und bis in die Gegenwart immer wieder verbesserte Transaktionsmodell, wonach Stress und seine Bewältigung als Wechselwirkung zwischen Organismus und Umwelt erscheint. Stress wird als Emotion gefasst, die durch Denkprozesse geformt werden kann. „Eine Bedrohungsbewertung, verbunden mit der spezifischen Bedeutung der Situation für den Betroffenen, löst bestimmte Stressemotionen aus, die sich mit dieser Bedeutung decken.“ (36) Der Einführungsartikel schließt mit einer Skizze des Zusammenhangs der Theorien mit verschiedenen Pflegeinterventionen.
Das Buch führt plastisch vor Augen, dass die dargestellten Ansätze valide Ergebnisse erbringen können, wenn sie richtig zum Einsatz gebracht werden: keine Theorie allein kann das komplexe Phänomen Stress und seine Bewältigung fassen noch den dynamischen Zusammenhang mit Gesundheit erklären. Hier ist, wie die Herausgeberin Virginia Hill Rice zusammen mit Brenda L. Lyon in ihrem Schlussartikel betont, noch viel Forschungsarbeit in den Bereichen Pflegetheorie, Pflegeforschung und Pflegepraxis nötig, „um den Einfluß stressbezogener Faktoren auf die Gesundheit aus pflegerischer Sicht schlüssig evaluieren zu können.“ (603)
Es besteht kein Zweifel, dass stressbezogene Variablen auf die Widerstandskraft des Körpers Einfluß haben und physiologische Veränderungen bewirken. So können Stressemotionen wie Angst und Bewältigungsreaktionen zu einer erhöhten Konzentration von Hormonen und Neurotransmittern führen, was wiederum Immunfunktionen unterdrücken kann – „ein Umstand, der höchstwahrscheinlich an der Entstehung vieler Krankheiten beteiligt ist.“ (606/608) Neben der Erforschung dieses Zusammenhangs steht für die künftige Forschung auch die Wirkung pflegerischer Interventionen im Fokus, wobei das Erleben von Krankheit und Wohlbefinden zentral ist. Die Herausgeberin beendet in diesem Sinne den Band mit einem Plädoyer: „Die Aufgabe der Pflegedisziplin, den Menschen zu helfen, selbst im Fall einer Erkrankung Wohlbefinden zu erfahren, bzw. nicht krank zu werden, wenn keine Erkrankung vorliegt, gewinnt mit dem Eintritt ins 21. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung für die Gesundheitspolitik und die Finanzierung von Gesundheitsdienstleistungen. In diesem Zusammenhang muss die Pflegeforschung nicht nur klar herausarbeiten, welche Stress erzeugenden Variablen oder Beziehungen zwischen diesen durch entsprechende Interventionen beeinflusst werden können, sondern auch das Einsparungspotenzial deutlich machen, das mit der erfolgreichen Durchführung solcher Interventionen verbunden ist.“ (609)
Gesamteindruck:
Zu den ausgesprochenen Stärken des Buches gehört, dass alle gegenwärtigen Theorien der Stressforschung von deren Vertretern dargestellt und auf Gesundheit bezogen werden. Da eine alle Theorieansätze integrierende Großtheorie derzeit fehlt, ergibt sich allerdings nur ein lockerer Zusammenhang der einzelnen Beiträge. Die Herausgeberin verbindet deshalb dieses Desiderat mit einem forschungspolitischen Plädoyer: die Forschung müsse sich künftig auf die Entwicklung eines operationalisierbaren Stess- und Gesundheitskonzeptes konzentrieren, um so die Wechselwirkung von Stress und Gesundheit messbar und Interventionen wissenschaftlich handhabbar zu machen. Das Buch erweist sich so auch als Anregung zum weiteren Nachdenken und Forschen. „Stress und Coping“ ist ein Grundlagen- und Standardwerk, das in der evidenz-basierten Pflege unbedingt Berücksichtigung verdient.
Für den deutschsprachigen NutzerInnen bietet der Band im Anhang einen Überblick über in deutscher Übersetzung zugänglichen Literatur und über deutschsprachige standardisierte Verfahren zur Stress-Erfassung. Eine kurze Beschreibung der AutorInnen und ein Sachwortverzeichnis runden das Buch ab. Einziger Wehrmutstropen bleibt das Alter des Buches (Erscheinungsdatum der Originalausgabe im Jahr 2000) und der Literaturangaben.
Aus dem Inhaltsverzeichnis:
Teil I: Einleitung (Lyon: Stress, Bewältigung und Gesundheit: Konzepte im Überblick)
Teil II: Stress als Reaktion (Rice: Theorien über Stress und seine Beziehung zur Gesundheit; Janusek und Mathews: Stress, Immunität und Gesundheit; White und Porth: Physiologische Indikatoren der Stressreaktion)
Teil III: Stress als Reiz (Werner und Frost: Einschneidende Lebensereignisse und Gesundheit; Macnee und McCabe: Mikrostressoren und Gesundheit; Wimbush und Nelson: Stress und Psychosomatik)
Teil IV: Interaktions- und Transaktionsmodelle (Horsburgh: Salutogenese: Ursprünge der Gesundheit und Kohärenzgefühl; Lazarus: Stress, Bewältigung und Emotionen: Entwicklung eines Modells; Backer, Bakas, Bennett und Pierce: Die Bewältigung von Stress: Programm der Pflegeforschung; Ryan-Wenger, Sharrer und Wynd: Stress, Bewältigung und Gesundheit bei Kindern; DeMarco, Ford-Gilboe, Friedemann, McCubbin und McCubbin: Stress, Bewältigung und Familiengesundheit)
Teil V: Stress, Bewältigung und Gesundheit: Vermittelnde Faktoren (Cohen und Welch: Einstellungen, Überzeugungen, Werthaltungen und Kultur als Stressmediatoren; Underwood: Sozialer Rückhalt: Versprechen und Wirklichkeit; Friedmann und Thomas: Typ-A-Verhalten und kardiovaskuläre Gesundheit; Reynolds und Alonzo: Akuter Myokardinfarkt: Verzögerte Inanspruchnahme medizinischer Versorgung; Ford-Gilboe und Cohen: Widerstandsfähigkeit; Raleigh: Hoffnung und Hoffnungslosigkeit; Ruiz-Bueno: Stress und Kontrollüberzeugung; Reynolds und Alonzo: Selbststeuerung: Das Commonsense-Modell der Krankheitsrepräsentation; Siela und Wieseke: Stress, Selbstwirksamkeit und Gesundheit; Barron: Stress, Ungewissheit und Gesundheit)
Teil VI: Ausblick (Lyon und Rice: Stress, Bewältigung, Gesundheit und Pflege: Die Zukunft)
Rezension von: Holger Rohde
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