Rezension zu:
Braam, Stella: „Ich habe Alzheimer“. Wie die Krankheit sich anfühlt, aus dem Niederländischen von Verena Kiefer und Stefan Häring, Weinheim und Basel 2007. Beltz Verlag, 2007.
ISBN: 978-3-407-85763-7
Schlüsselbegriffe: Alzheimer, Demenz, Pflegeheim, Erfahrungsbericht, Persönlichkeitsveränderung, Psychologie
Zielgruppe: Angehörige, Pflegende, Auszubildende, Lehrende, Betroffene
Kurzbeschreibung: Ein Psychologe erkrankt an Alzheimer. Bewußt teilt er so lange nur möglich seine Erfahrungen und deren Deutung mit seiner Tochter, die ihn bis zu seinem Tod begleitete.
Was geschieht, wenn das Mitglied eines eingespielten Autorenteams an Alzheimer erkrankt? Es entsteht ein Buch von einmaliger Tiefe.
„René hat die Station in seine Gewalt gebracht. >>Er bedroht hier alle<<, sagt die Betreuerin am Telefon. Sobald sie eine Chance sah, ist sie zu ihrem gläsernen Beobachtungsposten gegangen und hat meine Nummer gewählt.“ (7) So beginnt die Geschichte eines Psychologen, dem sein Leben Stück für Stück aus der Hand genommen wird: Durch seine Alzheimer-Erkrankung und durch die Reaktion der Gesellschaft und des Gesundheitssystems darauf. Ob durch beruhigende Medikamente oder durch verschlossene Türen; René erlebt, wie ihm nach und nach auch die Entscheidungen aus der Hand genommen werden, die er trotz seiner Erkrankung noch treffen könnte.
Das Besondere ist, dass er als Erforscher des Menschen und seiner Psyche viele Menschen daran teilhaben lässt, was sich in ihm und in seinem Leben ändert. Möglich wird dieser Einblick durch die enge Zusammenarbeit mit seiner Tochter Stella (die aus Respekt vor dem Protagonisten René nachfolgend auch mit ihrem Vornamen angesprochen wird). Stella begleitete seine krankheitsbedingten Veränderungen mit Stift und Tonband. Sie nahm seine Erlebnisse und Erkenntnisse auf und beschrieb sie in ihrem berührenden Buch.
Wenn Anfangs der recht sachliche Ton eine gewisse Distanz hervorruft, so ist dieser im Verlaufe des Lesens äußerst bereichernd. Wenn zu lesen ist, dass letztlich jeder Mensch an einer Demenz erkranken wird – nur eben zu einem unterschiedlichen Zeitpunkt - dann ist das nicht von der Hand zu weisen. Je älter die Menschen werden (vgl. demographische Entwicklung) um so präsenter wird die Demenz in unserer Gesellschaft. Das macht eine Auseinandersetzung unausweichlich. Die Auseinandersetzung damit, dass trotz aller Bemühungen um Steuerung bestimmter Prozesse nicht aufzuhalten sind – so wie das abbauende Gedächtnis nur noch bedingt trainiert werden kann. Doch die Demenz ist nicht nur aufgrund ihrer zeitlichen Nähe zum Tod eine Schwester des Todes, sondern auch aufgrund ihrer Unaufhaltsamkeit – gegen die Mensch hier wie dort ankämpft oder sich fügt. René hat verloren, aber in Würde und in einem berührenden Erkenntnisgewinn für alle Leser.
Wer mit Alzheimer-Erkrankten arbeitet, kennt die alten Damen, die ihr Leben lang gearbeitet und ihren Haushalt geführt haben. Noch dann, wenn sie keine zusammenhängenden Worte mehr formulieren können und sich kaum mehr bewegen können wischen sie auf Tischen, räumen Gegenstände umher und umsorgen Puppen. Faszinierender Weise folgt René auch sehr lange dem, was sein Berufsleben bestimmt hat: dem Wort und der Beobachtung. Auch dann, wenn die Inhalte nicht mehr nachvollziehbar sind, die Zusammenhänge nicht zu erfassen, drückt er sich gewählt aus und immer wieder gibt er uns bisher kaum erreichbare Einblicke in die Erlebniswelt eines Alzheimer-Patienten. Und hält allen Begleitern von Alzheimer-Erkrankten einen Spiegel vor. „René ist erschöpft. >>Das kommt vom Alzheimer<<, sagt er. >>Ich denke, der Kern meiner Krankheit ist Erschöpfung, kombiniert mit den Erwartungen des Umfelds, dass man noch immer das Gleiche können muss.<< (60)
Anfangs schreibt er noch eine Unmenge an Notizzetteln, mit denen er seine Vergesslichkeit ausgleicht. Irgendwann wiederholen sich die immergleichen Angaben und er erinnert sich nicht mehr, dass es seine Notizen sind. Die Speicher sind erschöpft: >>Jeden Morgen ist alles neu.<< (62)
Wenn die theoretischen Einschübe der Autorin auch Anfangs etwas irritieren und den Lesefluss unterbrechen, so erweisen sie sich im Verlaufe des Gesamtwerkes als wertvolle, wenn auch persönlich eingefärbte Lernmöglichkeit inmitten eines Erfahrungsberichtes: „Warum lastet ein Tabu auf dieser Alterskrankheit? Es lassen sich mehrere Gründe aufführen. In einer Zeit, in der sich alles um den wirtschaftlichen Nutzen dreht, fällt es den Menschen schwer, die Gebrechen der Alten zu akzeptieren. >>Während das Altern in früheren Zeiten als existenzieller Prozess körperlicher und geistiger Natur betrachtet wurde, gilt Altsein heute mehr und mehr als praktisches Problem, das mit Hilfe von Wissenschaft und Technologie lösbar ist<< schreibt der Gesundheitsrat in seinem Bericht.“ (63) Menschen verbringen nicht mehr einen ruhigen Lebensabend, sondern wollen und sollen möglichst lang vital sein.
Pflegende sehen sich Menschen gegenüber, die sich in einer Erlebenswelt bewegen, die von außen nicht einzusehen, nachzuvollziehen ist. Sie erfahren den Verlust von Höflichkeitsformen, von „Kultur“ und sehen sich Aggressionen von Menschen, mit denen sie täglich viele Stunden verbringen, gegenüber. „Ich habe Alzheimer“ ermöglicht Laienpflegern ebenso wie professionell Pflegenden wertvolle Einblicke, die eine Weiterbildung nicht ersetzen aber unterstützen und untermauern. Durch ein Verständnis für die Lebenswelt ihrer Klienten fällt es vielfach leichter, auf bestimmte Verhaltensformen zu reagieren, sie nicht persönlich zu nehmen: „Es läutet. Eine Pflegerin kommt und fragt, ob das Essen schmeckt. >>Und kann ich noch etwas für Sie tun? René [ein äußerst höflicher Mensch, Anm. d. Autorin] schaut sie mit eiskaltem Blick an. Nachdem sie gegangen ist, erklärt er: >>In diesem Gebäude, in dem ich ein Arbeitszimmer miete, wird stichprobenweise kontrolliert, ob die Männer Damenbesuch haben.<< (67) René hält sich so einen letzten Rest eigener Lebenswelt aufrecht. Er, der seine Tage damit verbrachte anderen Menschen zuzuhören, zu recherchieren und zu schreiben sieht sich noch immer in einem Arbeitszimmer und damit wird er noch gebraucht. Die Pflegende, die nur an einem kurzen Moment seines Lebens teilhat, versteht dieses nicht. Es sei denn, sie bzw. ihr Team haben seine Situation beispielsweise mittels Biographiearbeit erfasst.
Später bringt René seine Kritik am Umgang mit Menschen mit Demenz zu Papier:
„1. Keine Beachtung In-di-vi-ddum
2. Mangel gute Be-hand-lung
3. Arbeitsgruppen zu schwierig
4. Notwendig: So-zial-arbei-ter für Unterstützung praktische Dinge.“ (74)
Wie viel Wahrheit steckt in diesen Kritikpunkten. Sie stehen exemplarisch für die Situation Dementer in Pflegeinstitutionen, wenngleich 3. eine eher individuelle Bemerkung ist, die sich leicht dahingehend erweitern lässt, dass die Beschäftigangebote, die René ‚Arbeitsgruppen’ nennt, nicht immer auf ihre Zielgruppe zugeschnitten sind: So fällt es nicht nur ihm schwer, beim Vorlesen zuzuhören, wenn sich die Worte nicht mehr zu einem auch nur ansatzweise sinnvollen Zusammenhang verknüpfen lassen. Individuelle Beschäftigung ist notwendig.
Weitere Probleme, denen René begegnet, sind die medikamentöse Einstellung und die Gefahr einer Überdosierung, die müde und teilnahmslos macht und somit einen Teufelskreis eröffnet; Fixierung, Sturzprophylaxe, Einsamkeit, Suche nach Nähe bei gleichzeitiger Unruhe, den Wunsch zu flüchten und nicht zuletzt den Umgang mit der Ausscheidung: René sucht eine Toilette. „In seinem Zimmer ist hinter einer Schiebetür die >Nasszelle< mit Waschbecken, Dusche, Toilette. Doch René sieht nur eine weiße Fläche. Farben und Linien verblassen, die Kloschüssel verdampft im gebrochenen Weiß der Fliesen. Okay, seine Tochter behauptet, er stehe vor einer Toilette. Na dann los. >>Jetzt musst du mich kurz allein lassen<<, meint er bestimmt.“ (130) René erkennt keine Toilette und uriniert in den Raum – ihm wurde mitgeteilt, dass da ein Toilette ist. Es ist beschämend für ihn, wenn er erkennt, dass er in den Raum uriniert hat und ebenso wenn er eine von diesen warmen Windeln tragen muss, die eigentlich für Babys bestimmt sind. Es gibt Momente, an welchen er nicht mehr so leben will, doch seine Patientenverfügung gilt nicht mehr, da er nicht mehr ‚Herr seiner Sinne’ ist.
Stella beschreibt immer wieder die Gedanken, die sie bei ihrem Vater vermutet, oder die er auch äußert. Sie beschreibt aber auch die Gedanken und Empfindungen der Tochter, die erlebt, wie sich ihr Vater und Mitarbeiter in vielen Projekten immer mehr von ihr entfernt. Wie er sich verändert und den Kontakt zur Außenwelt verliert. Wie er von einer Abhängigkeit in die andere gerät und sich nicht dagegen auflehnen kann. Wie er Orientierung sucht, das Gefühl hat, das Heim in dem er lebt sei eine Sekte – und dabei immer das Vertrauen in die Tochter behält. „Eines Tages hat René wahrhaftig sich selbst verloren. Er fragt seinen HVP [Hauptverantwortlichen Pfleger, Anm. der Autorin]: >>Haben Sie zufällig René van Neer gesehen?<< (143)
Ein wunderbares und warmes Buch, das allen Lesern eine Annäherung an eine Erkrankung und eine Erlebensweise ermöglicht, die gesellschaftlich zunehmend relevant und dennoch häufig tabuisiert wird. Eine Möglichkeit des Lernens nebenbei. Wenn Stella beschreibt, wie wichtig es ist zugewandt mit Alzheimer-Erkrankten zu sprechen, nahe an sie heranzutreten, ihre Hand zu halten, sie mit dem Namen anzusprechen und ihnen in die Augen zu schauen, in einfachen Sätzen zu sprechen, die jeweils nur eine Information enthalten, zu fragen, wer man ist (164) – kann dies so manche misslungene Kommunikationssituation in Haus und Heim erklären. So ist das Buch ein Erfahrungsbericht und ein wertvoller Ratgeber zugleich. Dies wird unterstützt durch das Einbeziehen von reichlich Fachliteratur. Selten ist es so spannend zu lernen. Selten ist ein Erfahrungsbericht so fundiert, so greifbar und so erklärend wo händeringend Erklärungen gesucht werden. Der exemplarische Charakter bringt es mit sich, dass die Erkenntnisse nicht auf eine ganze Personengruppe übertragen werden kann. Das ist jedoch auch nicht sein Anspruch. Im Gegenteil, Ziel ist es, das Individuum und seine Bedürfnisse zu sehen und nicht einen Kranken. Übertragbar und in die Entwicklung jeglicher Standards zum Umgang mit Dementen einzubeziehen ist jedoch Renés Forderungskatalog. „>>Wenn ich etwas zu Sagen hätte ...<<
Empfehlung
Pflegende im Umgang mit Dementen müssen dieses Buch gelesen haben. Es darf in keiner Fach-Bibliothek in einem Altenheim fehlen. Die Mischung aus Empathie und Information die die nüchterne Schreibweise und die tiefe Bindung und ehrliche Beziehung zwischen Vater und Tochter ermöglicht ist beinahe einmalig – und wertvoll.
Wenn auch leicht polemisch, so doch fachlich fundiert in ihrer Argumentation überzeugt Stella Braam in ihrer Argumentation und macht Hoffnung auf mehr. Sie beleuchtet die Situation in Altenheimen kritisch, ohne zu verurteilen. Auch darin liegt eine große Stärke.
Die Lesenden vollziehen eine Reise in die Erlebniswelt eines Alzheimer-Erkrankten und seiner Begleiterin. René bleibt bis zuletzt ein Forschender und Fragender, ein Mensch, der soweit als möglich reflektiert zu dem Position bezieht, was er erlebt und wie er die Menschen um sich herum erlebt. Er will der Welt etwas sagen und hat in seiner Tochter ein Sprachrohr gefunden.
Rezension von: Karo
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